Es sind hauptsächlich drei Motive, die im reichen Sagengut wiederkehren: Es sind der unerschütterliche Glaube an das früher bessere Leben wegen des milderen Klimas, verborgene Schätze im Berginnern, sowie das Bestehen von zwei Alpenübergängen ins Wallis. Auch zur Entstehung der hohen Berge Eiger, Mönch und Jungfrau gibt es Erklärungen in den Sagen. So erzählt eine Geschichte, dass auf der Wengernalp, dort wo heute die Bahn auf das Jungfraujoch hinauffährt, eine Familie von Riesen wohnte. Der Vater, seine zwei Söhne und seine Tochter wurden mit den Jahren immer böser. Einmal kam ein armer Mann und bat den Riesen um einen Schluck Milch. Der aber fuhr ihn hart an, sie hätten keinen Überfluss an Milch, er solle doch Wasser saufen. Der arme Mann war aber in Wirklichkeit ein Berggeist. Bevor er vor den Augen der Riesen einfach verschwand, belegte er sie mit einem fürchterlichen Schwur. Darauf begannen die bösen Riesen zu wachsen, hoch und immer höher, und sie wurden zu Fels und Eis, der Vater zum Eiger, die Söhne zum Weissen und Schwarzen Mönch und die Tochter zur Jungfrau. Jetzt wissen Sie also, wie diese weltberühmten Gipfel entstanden! Es gibt aber auch Sagen, die erzieherischen Wert hatten, zum Beispiel die Sage vom Hakenmann.
Sie sollte die Kinder im Tal und auf den Terrassendörfern davor bewahren, in einen Bergbach zu geraten oder von den steilen Felsen in den Tod zu stürzen. Laut der Sage gibt es einen fürchterlichen Hakenmann, der einen langen Stock besitzt, an dessen Spitze ein scharf gebogener Haken in Form eines Geierschnabels angebracht ist. Der Hakenmann ist erpicht auf Menschenfleisch, besonders auf das von Kleinkindern. Ohne Rast und Ruh ist er auf der Lauer, sei es an den Ufern der Bäche oder an den Rändern der Felswände. Kommt nun ein Kind zu nahe ans Ufer oder an einen Abgrund, fängt es der Hakenmann mit seinem schauerlichen Haken, frisst es roh und gibt die Knöchlein den Fischen zum Fressen, oder er brät das Kind hoch oben in den Felsen. Die kreischenden Vögel zanken sich um die Reste. Linkerhand Ihres Weges erhebt sich eine steile Felswand. Steigt man da hoch, erreicht man eine Alp, also eine Sommerweide, auf der ein Senn und sein Küherjunge die Tiere hüten und früher auch Käse herstellten. Die Alp trägt den Namen «Busenalp». Auch darüber gibt es eine Sage. Diese hören Sie nun in vollem Wortlaut: Die hoch gelegene Alp Busen am Hang des Tschingelgrates stand nie in besonders gutem Rufe. Einmal gehörte sie einem bösen Weib aus Stechelberg, das schon zum dritten Mal Witfrau geworden. Es war etwa in aller Leute Mäuler, dass sie den ersten Mann vom Himmel, den zweiten von der Erde und den dritten vom Teufel erhalten und sie alle drei unter den Boden geärgert habe. Es war schon öfters vorgekommen, dass im Herbst am Morgen der Alpabfahrt der Senn eine Leiche war. Das wurde bald überall bekannt, und lange Jahre wollte niemand mehr da oben alpen. Es wäre bald soweit gekommen, dass die Weiden nutzlose Wildnis geworden wären. Da erschien einst ein munterer, junger Bursche aus einer anderen Talschaft beim bösen Weib und trug ihm seine Dienste an. Alle wohlgemeinten Mahnungen der Leute gingen bei ihm auf wie Rauch und Schall. Sein Entschluss war gefasst, und bald nahm er die Arbeit als Senn auf der Busenalp an. Frohen Mutes trieben er und der Hüterbube die Herde zu Berg. Die Weiden waren diesen Sommer saftig, kein einziges Tier starb, das Vieh gedieh sogar besonders gut, weil Senn und Bube die Tiere liebreich behandelten. Zu rasch vergingen die Wochen des Schönwettersommers, und im Handumdrehen war der Vorabend der Talfahrt da. Ob all der vielen Vorbereitungen hatten Senn und Hüterbube späten Feierabend und keine Zeit, schlimmen Gedanken nachzuhängen. Da der Älper wusste, wie es etlichen seiner Vorgänger ergangen war, nahm er einen derben, zähen Tannastknebel mit sich hinauf auf das Gelieger, denn er fürchtete sich weder vor Tod noch Hölle und war bereit, wenn es Notsach war, selbst dem Teufel in den Bart zu greifen. Richtig – in der bösen Mittnachtsstunde weckte ihn ein grässliches Zischen und Fauchen. Zwischen Schindeln und Rundbalken zwängte sich eine kohlschwarze Katze, um ein Mehrfaches grösser als eine Gewöhnliche. Sie knurrte und schaute den jungen Sennen mit glühenden Augen an. Der behielt alle seine Sinne beisammen, ergriff den Knebel: «Bist eine echte, so ist es besser, du stellst dich auf die Seite, bist eine Andere, so wart, ich will dir grad gleichwohl eins über den Schädel hauen!» Als das schwarze Untier ihm mit den Vordertatzen nach dem Hals greifen wollte, da traf er es solchermassen mit dem Tannast, dass man die Knochen knacken hörte. Es jaulte und miaute laut auf, und dann verschwand es. Als ob nichts geschehen, fuhren Älper und Hüterbub in der taufrischen Frühe mit dem Vieh zu Tal. Wie staunte aber der junge Mann, als seine Meisterin drunten im Grund, wie die Leute sagten, seit letzter Nacht mit gebrochenen Gliedern auf dem Laubsack lag! Diese Hexe hatte jeweilen die Sennen in der Nacht vor der Talfahrt umgebracht, um keinen Sommerlohn entrichten zu müssen. Sie blieb ans Bett gefesselt bis an ihr böses Ende. Folgen Sie jetzt dem Weg weiter bis zum Fluss. Das kleine Holzhaus, das Sie unterhalb des Weges sehen, gehört zu einer öffentlichen Feuerstelle. Wandern Sie links weiter dem Fluss entlang abwärts. Aber seien Sie auf der Hut vor dem Hakenmann! Bald werden Sie die alte Sägemühle erreichen!